Johannes Walter
Mit der Reichspogromnacht in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erreichte die
Verfolgung jüdischer Menschen in Deutschland eine neue Dimension; sie bildete den Auftakt für
die systematische Entrechtung, Beraubung und Ermordung, kurz Entmenschlichung, unzähliger
jüdischer Menschen. Ich spreche nun, rund 75 Jahre nach der Shoah, als Teil der jungen jüdischen
Community in Göttingen zu Euch um zu gedenken, aber auch zu mahnen, und so meine Stimme
auch für all jene zu erheben, die nicht mehr selbst sprechen und Zeugnis ablegen können.
Dies empfinde ich als jüdische Person der dritten Generation nach der Shoah als Verpflichtung
gegenüber meinen Großeltern und Urgroßeltern, die unvorstellbares Leid erfahren haben. Die
Shoah ist und bleibt für viele von uns auch im Alltag ein einschneidendes und präsentes Trauma,
das von Generation zu Generation weitergetragen wird. Wir benötigen keine fixen Gedenktage, um
uns der Geschehnisse zu vergegenwärtigen. Doch wie wird sich die nichtjüdische
Mehrheitsbevölkerung erinnern und aus der Vergangenheit lernen, wenn eines Tages die letzten
Überlebenden nicht mehr unter uns sind, um zu erzählen?
Die Antwort: Mit Gedenkveranstaltungen, Mahnwachen, dem Niederlegen von Blumen und
Solidaritätsbekundungen. Versteht mich nicht falsch; auch solche ritualisierten Formen des
Gedenkens sind wichtig. Doch wir als jüdische Gemeinschaft existieren nun mal auch neben dem
Gedenken. Nach wie vor werden jüdische Menschen in eine Schublade gepackt. Aus dieser
„Judenschublade“ werden wir nur geholt, wenn es der Mehrheitsgesellschaft gerade in den
Kalender passt; nach einem Anschlag auf jüdische Einrichtungen oder anlässlich eines
Gedenktages, wenn sich die „guten“ Deutschen von heute von den „schlechten“ Deutschen von
damals abgrenzen möchten. Es scheint oftmals, als wären die toten Juden von damals interessanter
als die Lebendigen im hier und jetzt. In diesem Spiel werden jüdische Menschen auf die Opferrolle
reduziert, ob wir nun wollen oder nicht. Dies ignoriert jedoch die Biografien und Taten von
jüdischen Menschen, die als Kämpfer*innen in der Roten Armee, als Partisan*innen, oder in
Ghettos und Konzentrationslagern den Nazis Widerstand leisteten. Bei diesem Gedächtnistheater,
wie Max Czollek es nennt, sind jüdische Menschen nur die Statist*innen, die als Symbolfigur
herhalten sollen, um Deutschland zu versichern, dass alles zur Aufarbeitung der
nationalsozialistischen Verbrechen getan und schlussendlich alles wieder „gut“ ist.
Wir wollen uns
dieser Rollenzuschreibung nicht fügen. Deutschland hat die wohl weltweit am schnellsten
wachsende jüdische Gemeinschaft; doch von Normalität sind wir noch weit entfernt. Jüdisches
Leben kennen viele nur aus dem Geschichtsbuch; Juden als kaftantragende Gestalten mit Bart und
Schläfenlocken. Dies spiegelt jedoch in keiner Weise den existierenden Facettenreichtum jüdischen
Lebens in Deutschland wieder. Wir sind da, es gibt uns noch, wir sind nicht nur eine entfernte
Erinnerung in schwarz-weiß. Ganz im Gegenteil: wir sind bunt, selbstbewusst und lassen uns nicht
in Schubladen stecken!
Jüdisch zu sein, was auch immer das bedeuten mag, ist nur ein Teil unserer
Identität: Wir sind vor allem junge Menschen, Studierende, mit den unterschiedlichsten
Leidenschaften und Interessen. Und wir wollen als aktiver Bestandteil dieser Gesellschaft
wahrgenommen werden und unsere Zukunft mitgestalten.
Nach 1945 haben sich die Deutschen
selbst und der jüdischen Gemeinschaft ein Versprechen gegeben: „ Nie wieder“!
Doch nach wie vor trauen sich viele jüdische Menschen nicht, sich offen zu ihren jüdischen
Wurzeln zu bekennen – aus Angst vor antisemitischen Übergriffen und Benachteiligung im Alltag.
Die meisten jüdischen Personen haben bereits, teils traumatische, Erfahrungen mit Antisemitismus
machen müssen; sei es am Arbeitsplatz, in der Uni, beim Sport oder auch in den öffentlichen
Verkehrsmitteln. Obwohl die meisten von uns einen deutschen Pass haben und sogar hier in
Deutschland geboren sind, sind wir oft „Fremde im eigenen Land“; nie „deutsch“ genug um
wirklich dazuzugehören.
In vielen Regionen kann jüdisches Leben gezwungenermaßen nur in der
Sicherheit der Gemeinden stattfinden; abgeschottet und mit Überwachungskameras und
Polizeischutz ausgestattet. Das ist nicht wie wir uns die jüdische Zukunft in Deutschland vorstellen.
Verabschiedet euch von dem Gedanken, dass Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und andere
Formen von Menschenfeindlichkeit einer längst vergangenen Zeit angehören würden. Für uns
Betroffene ist es nach wie vor ein dringendes Thema, auch wenn Politik und Gesellschaft das oft
nicht zu interessieren scheint.
Ist das die deutsche Auffassung von „Nie wieder“? DiesesVersprechen wird
angesichts von Diskriminierung und zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in
Deutschland und weltweit zu einer leeren, bedeutungslosen Worthülse. Die Reichspogromnacht
wurde zwar auf Initiative einer kleinen Clique organisiert und durchgeführt, jedoch nahm der
Großteil der Bevölkerung diese schrecklichen Ereignisse wortlos hin. Man machte mit, man feuerte
an, man schaute zu.
Es ist nicht nur die Aufgabe der Betroffenen, Diskriminierung jeglicher Art die
Stirn zu bieten. Daher appellieren ich an eure Zivilcourage nicht nur an Gedenktagen wie heute,
sondern auch im Alltag: Seid nicht so wie die Menschen damals, die gleichgültig wegschauten als
die Synagogen brannten, sondern habt den Mut, aktiv und entschlossen jeglicher Form von
rassistischer, fremdenfeindlicher, religiöser, politischer oder sexueller Diskriminierung
entgegenzutreten.
Kurs Religion eA Q2, Abitur 2022, Rauhaus
Das Mahnmal steht hier.
Es steht hier seit bald 50 Jahren, bei Wind und
Wetter, das ganze Jahr hindurch.
Es steht auf dem Platz, der seit etlichen Jahren
endlich auch ‚Platz der Synagoge‘ heißt.
Es steht hier, damit wir uns erinnern lassen an die
prächtige Synagoge, an die Menschen, die dort ein-
und ausgegangen sind, die sich im Jüdisch-Sein
verbunden fühlten
Es steht hier, weil wir der Menschen gedenken, die
ihr Leben lassen mussten.
Das Mahnmal steht hier aber auch für uns. Nicht nur
einmal im Jahr, wenn wir uns hier alle versammeln. Es
steht auch hier, wenn jemand im Laufe des Jahres
hier vorbeikommt.
Wenn jemand nach unten geht und nach oben
schaut, wie es auf dem Hinweisschild heißt oder
wenn jemand liest, was auf den Gedenktafeln steht.
Immer dann, wenn jemand hinhört, was das
Mahnmal uns sagen und was es uns fragen kann.
An der Seite der Nazis standen damals Jubelnde und
Schweigende, Furchtlose und Ängstliche,
Mitläufer*innen und Wegsehende.
Es mahnt uns, aufmerksam zu fragen, wo wir heute
stehen. In welchen Situationen sind auch wir
Mitläufer*innen, wann sehen wir weg, wo sind wir
bequem und ängstlich?
Erinnern – Gedenken – Mahnen - Wo stehen wir
heute? Wir laden Sie ein zu einer Gedankencollage:
• Du gedrehter Flammenstern. Wer dich hier
wohl alles besucht, während die Krähe schreit?
„Kinder, Frauen, Männer/Ermordet in dunkler Zeit“,
lese ich auf einer der Tafeln. Vor mir, neben mir,
hinter mir, überall stehen Namen; eine nicht enden
wollende Liste: Edith, Rosa, Kurt, Levi, Ludwig, … Die
Krähe schreit wieder. Ich sehe, wie sie beschwingt
von einem Betonklotz zum nächsten hüpft. Ganz
leichtmütig, ohne Scheu. Mit dem Geschenk des
Lebens waren sie gesegnet und es wurde brutal
zerstört. Wieder höre ich die Krähe schreien. Sie
schreit und hüpft näher an mich heran, als wolle sie
mich erinnern. Immer eindringlicher werden ihre
Schreie, es klingt, als würde sie Namen schreien.
Namen, kombiniert mit Daten. Anfang und Ende, als
wäre alles, was dazwischen passiert ist, nicht wichtig.
Namen, niedergeschrieben in einer Liste, niemand
sticht hervor. Die Menschen, für die die Namen hier
stehen, werden damit zu einer Gemeinschaft. Namen
sind eben mehr als nur Buchstaben.
Namen geben uns ein Stück Persönlichkeit. Man
identifiziert sich damit. Wer wären wir ohne Namen?
Keiner kann/ keiner darf uns den Namen nehmen!
Unser Name bleibt uns bis in den Tod und über den
Tod hinaus. Jedenfalls dann, wenn man sich an ihn
und an den Menschen erinnert! Wie an diesem
Erinnerungsort.
Jeder Name steht für eine Lebensgeschichte mit
Wünschen und Hoffnungen. Oft sind diese
Lebensgeschichten, und erst recht die vielen privaten,
kleinen Erlebnisse der Opfer mit ihren Wünschen und3
Hoffnungen unwiederbringlich verloren.
Die Namen stehen für ein grausames Schicksal, für
ein Verbrechen an diesen Menschen. Das Rufen wird
nicht verstummen!
Unsere Aufgabe ist es, das Rufen zu hören, um uns zu
erinnern!
• Du winziger Raum in der Erde. Wer dich hier
wohl alles besucht, wenn es abends dunkel wird
und das Laub raschelnd in dein Inneres weht?
Krächzend hüpft die Krähe beiseite, unterbricht das
genüssliche Picken in der Styroporschachtel, als die
Frau von der Stadtreinigung die Stufen hinuntersteigt.
Wer hat hier sein abendliches Fast-Food-Menü
verzehrt? Hat er oder sie hier vielleicht Schutz vor
dem Wind gesucht? Allein oder in Gemeinschaft? Den
Hungrigen ist der Bissen offensichtlich nicht im Hals
stecken geblieben.
Kann man ein Denkmal missbrauchen? Oder ist alles,
was man an diesem Ort veranstaltet, vielleicht eine
neue Form der Erinnerung?
Selbst wenn man nicht gelesen hat, was hier steht –
dieser Ort hat ja doch eine Ausstrahlung. Gefühlen,
die hier ausgelöst werden, kann man sich kaum
entziehen.
Wenn man hinuntergeht, kann man die Passanten
und den Verkehr nicht mehr sehen, die Geräusche
sind gedämpft. Eine Atmosphäre von einem ganz
eigenen Raum: einsam, düster, eiskalt, obwohl nur
einige Meter von der lebendigen Innenstadt entfernt.
Wo ist an diesem Ort die Grenze zwischen
Missachtung und Achtung?
Die Frau von der Stadtreinigung sammelt auf ihrer
alltäglichen Runde den Müll ein und pustet das Laub
weg. Eine Form der Fürsorge. Ob sie dabei bisweilen
auch innehält? Kann man mitten im Alltag gedenken?
Spürt sie, wo sie steht?
Die Krähe jedenfalls kehrt zurück, sobald der Ort
wieder menschenleer ist.
Auch unsere Aufgabe ist es, immer wieder hier
hinabzusteigen - und zu gedenken!
• Du mahnender Fingerzeig! Wer dich wohl alles
besucht, wenn der Morgentau auf deinen
Stahlstäben glänzt?
Winzig scheint das Mahnmal zu sein im Vergleich zu
der prächtigen Synagoge, die hier stand. Und doch ist
die Botschaft groß! Ich schaue nach oben in die
gedrehten Davidsterne und sehe den Himmel
leuchten.
Viele Menschen kamen hier zusammen, mindestens
einmal wöchentlich. Die Göttinger Gemeinde musste
sich später auflösen, weil sie zu klein geworden war,
damals, kurz bevor dieses Mahnmal errichtet wurde.
Dass Göttingen heute wieder eine Heimat für gleich
zwei jüdische Gemeinden geworden ist, stimmt
hoffnungsfroh. Jüdinnen und Juden sollen glücklich
und sicher in Göttingen leben! Ein Lichtblick wie der
Morgentau auf den Stäben, den man sieht, wenn man
aufschaut.
Unsere Aufgabe ist es, immer wieder aufzublicken
und unseren Standort zu bestimmen!
Erinnern – Gedenken – Mahnen. Wo stehen wir
heute?
In der Schule wird darüber geredet. Manche fragen
sich vielleicht, was das jetzt noch bringt. Deshalb darf
die Shoah nicht bloß ein Thema in ein paar
Geschichtsstunden sein. Wir müssen uns lebendig
und gesamtgesellschaftlich erinnern.
Denn Geschichte ist mehr als ein paar Zahlen in
einem Buch und ist auch mehr als ein paar Worte an
einem Denkmal! Es handelt sich dabei immer auch
um eine Botschaft der Vergangenheit an die Zukunft.
„Darüber haben wir nie gesprochen!“ In etwa so
antworteten meine Großeltern, als ich sie mit Fragen
löcherte, wie sich die Zeit des Holocaust und die
Folgen auf ihre Kindheit ausgewirkt haben könnte.
Denn so eine Zeit, dachte ich, mit höchst emotionalen
und auch traumatischen Ereignissen, musste doch
Spuren hinterlassen haben.
So traurig es ist, müssen wir feststellen: Individuelles
Erinnern ist weitgehend verlorengegangen mit der
Ermordung der Menschen. Es bleibt uns bald nur
noch das kollektive kulturelle Erinnern.
Das kollektive kulturelle Erinnern ist zeremonialisiert,
institutionalisiert; die Sprachen des kulturellen
Erinnerns sind das Denkmal und der Ritus; Von der
Gesellschaft autorisierte Menschen gestalten das
kulturelle Erinnern.
Die Gemeinschaft schafft durch die Erinnerung eine
kollektive kulturelle Identität. Sie erinnert sich
gemeinsam und kann im gemeinsamen Austausch
einsehen, welches Unrecht den Menschen
widerfahren ist. Damit erinnert sie zugleich daran,
wozu der Mensch fähig ist.
Da reicht es nicht, sich einmal zu ein paar
Gedenktagen an ein Mikrofon zu stellen und eine6
Rede zu halten.
Und wir fragen uns auch: Sind Worte überhaupt
angemessen für all die schrecklichen Taten? Kann
man das Schreckliche überhaupt mit Worten fassen?
So großes Leiden, das kein Mensch sich wirklich
vorstellen kann!
Das kollektive kulturelle Erinnern stellt immer eine
Interpretation der Vergangenheit dar. Die
Gesellschaft definiert, wie sie sich erinnern will.
So wurde vor der Einweihung des Mahnmals
entschieden, wie die Inschrift lauten solle.
Ursprünglich war ein Vers des Propheten Jeremia
angedacht: „O, hätte ich Tränen genug zu weinen
über die Erschlagenen meines Volkes“. Man
entschied sich aber für Jesaja: „Berge werden
weichen und Hügel werden wanken, aber meine
Gnade wird von dir nicht weichen“. Statt Klage den
Zuspruch der Gnade. Das ist eine Interpretation der
Geschichte.
Auch die Inschrift: „Kinder, Frauen, Männer/Ermordet
in dunkler Zeit“ ist eine bestimmte Sicht auf die
Geschichte. Vielleicht würde man das heute anders
formulieren?
Man hatte sich damals für diese Inschrift
entschieden, die eigentümlich passivisch klingt.
Wer das getan hat, die Mörder, werden nicht als
solche benannt. Es klingt fast so, als wäre von
irgendeiner geheimen Macht gemordet worden.
„Ermordet in dunkler Zeit“, die Zeit war ‚dunkel‘,
konnte man also etwa nicht genau sehen?
„Zur Erinnerung an die 1938 niedergebrannte
Synagoge und den Leidensweg der jüdischen
Gemeinde.“ Erinnern? Das ist gut, aber wollen wir
heute nicht mehr, als uns nur erinnern? Wollen wir
nicht auch gedenken und mahnen?
Denn etwas davon, was damals zu einem
barbarischen Menschenbild führte und in der Folge
dann auch zur Ermordung von Jüdinnen, Juden und
vielen anderen führte, ist auch heute noch da.
Und können nicht mehr sagen, dass es einfach dunkel
ist, denn wir haben heute ein anderes Bewusstsein.
Wir stehen historisch nicht VOR dem Holocaust,
sondern wir haben gesehen, wozu der Mensch fähig
ist.
Es hält sich der Irrglaube, dass die Geschichte der
Vergangenheit angehöre und dass also mit dem Ende
des Holocaust jedes antisemitische und
antirassistische Gedankengut aus den Köpfen der
Menschen gelöscht sei. Wenn das so einfach wäre!
Die Uhr hat nie null geschlagen!
Auch ich bin von der Vergangenheit geprägt. Das
merke ich daran, dass ich mich verantwortlich fühle:
Verantwortlich dafür, dass und wie erzählt und
erinnert wird.
Wir stehen hier, um uns zu erinnern, zu gedenken
und auch um zu mahnen, wenn es direkten oder
strukturellen Antisemitismus und Rassismus gibt.
Die jüdische Philosophin Susan Nieman bemerkt,
dass, auch wenn noch längst nicht alles gut ist, das
deutsche Erinnern durchaus zum Vorbild für andere
Nationen dienen könne. Sie spricht davon, dass
Deutschland „Geschichtsaufarbeitungsweltmeiser“
sei.
Obwohl Nieman das sagt, kennt auch sie die direkte
Bedrohung. Zugleich erzählt sie aber auch von
strukturell-antisemitischen Erfahrungen: Die
Erzieherin ihres Sohnes sei froh gewesen, nicht
gewusst zu haben, dass ihr Sohn Jude sei, denn nur so
habe sie, die Erzieherin, unbefangen mit ihm
umgehen können.
In der Wissenschaft geht man davon aus, dass es für
die Erinnerung einen so genannten Abrufreiz braucht,
also eine Art Trigger. Eine Gedenkfeier wie diese am
9. November ist eine Art Trigger des kulturellen
Gedächtnisses.
Sie schafft Zeit, innezuhalten und aufmerksam zu
werden dafür, was heute so allgegenwärtig und
bisweilen unbewusst in unseren Alltag vorkommt.
Und sie schenkt uns einen Perspektivwechsel. Denn
die meisten von uns hier sind Kinder und
Kindeskinder der Davongekommenen oder der
Jubelnden und Schweigenden, vielleicht auch der
Furchtlosen und Ängstlichen, oder Kinder der
Mitläufer*innen und der Wegsehenden.
Aber genügt dieser Rahmen?
Denn, was passiert eigentlich nach diesem Ritus
heute? Gehen wir alle wieder nach Hause in der
Annahme, bis zum nächsten Jahr genug getan zu
haben gegen Rassismus und Antisemitismus?
Erinnern muss zu einem Event werden, an dem ALLE
teilnehmen WOLLEN. Ein Event, wo sich das
Gedenken nicht auf eine Stunde und das Mahnmal
beschränkt.
Erinnern allein genügt nicht, erst recht nicht, wenn es
nur in einem Kreis auserwählter Bildungsbürger
geschieht. Rechtsextreme Einstellungen gibt es in9
allen Bereichen der Gesellschaft. Und täglich
geschehen zahlreiche antisemitische und rassistische
Übergriffe.
Dieses Event muss das Handeln gegen den
gegenwärtigen Antisemitismus miteinschließen. Es
müsste ein Grundstein für verändertes Handeln
gelegt werden. Dann würde das Erinnern, Gedenken,
Mahnen den Titel
„Geschichtsaufarbeitungsweltmeister“ bald verdient
haben.
Was auch immer geschieht: Das Mahnmal wird hier
weiter stehen.
Die entscheidende Frage aber ist, wo wir stehen und
wofür wir stehen.
Und eines ist auch sicher: Wenn wir alle weg sind,
wird die Krähe wiederkommen und dort auf der
kleinen Rasenfläche sitzen, als ob sie den Platz
bewachen würde.