Redebeiträge der Gedenkstunde am 9.November.2021
auf dem Platz der Synagoge in Göttingen

Esther Heling-Hitzemann, Vorsitzende der Gesellschaft

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Zur diesjährigen Gedenkstunde am Mahnmal der Synagoge begrüße ich Sie sehr herzlich im Namen der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und im Namen des Göttinger Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Ich danke Ihnen, dass Sie hier sind.

Hier, wo vor 83 Jahren die prachtvolle Göttinger Synagoge in Flammen aufging und wo seit 1973 ein Mahnmal an diesen zerstörerischen Hass erinnert, hier stehen seit nunmehr 48 Jahren an jedem 9. November Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt und halten die Erinnerung an den 9. November 1938 wach. Bereits zum 25. Mal ist diese Gedenkstunde auch der Auftakt einer Veranstaltungsreihe des eben genannten Göttinger Bündnisses, zu dem auch die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gehört. Eine Übersicht über diese Veranstaltungsreihe, die sich bis zum 30. Januar erstreckt, wird am Rande der Gedenkstunde von Mitgliedern unseres Bündnisses verteilt.

Erinnern – Mahnen – Gedenken: Es ist inzwischen Tradition in Göttingen, dass sich junge Leute, meist Lerngruppen Göttinger Schulen oder Studierende, mit diesem 9. November 1938 auseinandersetzen und die Gedenkstunde inhaltlich gestalten. In diesem Jahr geht unser Dank an den Abiturkurs im Fach Evangelische Religion unter der Leitung von Esther Rauhaus vom Otto-Hahn-Gymnasium. Auch der musikalische Beitrag kommt von einer ehemaligen Schülerin dieser Schule – Sofia Müller, die mit Gesang und Piano diese Gedenkstunde heute mitgestaltet.

Erinnern – Gedenken – Mahnen: So lautet das Motto, das die jungen Leute ihrem Beitrag gegeben haben. Das Besondere in diesem Jahr: Zur Vorbereitung haben sie sich mit Mitgliedern der Jüdischen Hochschulgruppe getroffen. Christliche und jüdische junge Erwachsene unserer Stadt sind auf diese Weise miteinander in den Dialog gekommen über das, was das Gedenken an den Terror des 9. November 1938 für sie bedeutet. Und sie stellen die zentrale Frage: Wo stehen wir heute? Die Beiträge dieser beiden Gruppen bilden den Schwerpunkt dieser Gedenkstunde. Mit dem Kaddisch, gebetet von Vertretern der Liberalen jüdischen Gemeinde in Göttingen, wird unser Gedenken am Schluss ausgeweitet auf die Toten aller Konzentrationslager der Nazizeit.

Doch vor diesen Beiträgen hören wir ein Grußwort unserer neuen Oberbürgermeisterin Petra Broistedt. Denn diese jährliche Gedenkstunde ist auch ein wichtiges Anliegen der Stadt Göttingen, die wie in jedem Jahr die organisatorische Vorbereitung übernommen hat: die Bereitstellung der Technik, die Regelung durch das Ordnungsamt und den Schutz der Polizei. Mein Dank geht an alle, die daran beteiligt sind.

Und das Wort geht nun an Sie, sehr geehrte Frau Broistedt. Danke, dass Sie hier sind!


Johannes Walter

Mit der Reichspogromnacht in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erreichte die Verfolgung jüdischer Menschen in Deutschland eine neue Dimension; sie bildete den Auftakt für die systematische Entrechtung, Beraubung und Ermordung, kurz Entmenschlichung, unzähliger jüdischer Menschen. Ich spreche nun, rund 75 Jahre nach der Shoah, als Teil der jungen jüdischen Community in Göttingen zu Euch um zu gedenken, aber auch zu mahnen, und so meine Stimme auch für all jene zu erheben, die nicht mehr selbst sprechen und Zeugnis ablegen können. Dies empfinde ich als jüdische Person der dritten Generation nach der Shoah als Verpflichtung gegenüber meinen Großeltern und Urgroßeltern, die unvorstellbares Leid erfahren haben. Die Shoah ist und bleibt für viele von uns auch im Alltag ein einschneidendes und präsentes Trauma, das von Generation zu Generation weitergetragen wird. Wir benötigen keine fixen Gedenktage, um uns der Geschehnisse zu vergegenwärtigen. Doch wie wird sich die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung erinnern und aus der Vergangenheit lernen, wenn eines Tages die letzten Überlebenden nicht mehr unter uns sind, um zu erzählen?

Die Antwort: Mit Gedenkveranstaltungen, Mahnwachen, dem Niederlegen von Blumen und Solidaritätsbekundungen. Versteht mich nicht falsch; auch solche ritualisierten Formen des Gedenkens sind wichtig. Doch wir als jüdische Gemeinschaft existieren nun mal auch neben dem Gedenken. Nach wie vor werden jüdische Menschen in eine Schublade gepackt. Aus dieser „Judenschublade“ werden wir nur geholt, wenn es der Mehrheitsgesellschaft gerade in den Kalender passt; nach einem Anschlag auf jüdische Einrichtungen oder anlässlich eines Gedenktages, wenn sich die „guten“ Deutschen von heute von den „schlechten“ Deutschen von damals abgrenzen möchten. Es scheint oftmals, als wären die toten Juden von damals interessanter als die Lebendigen im hier und jetzt. In diesem Spiel werden jüdische Menschen auf die Opferrolle reduziert, ob wir nun wollen oder nicht. Dies ignoriert jedoch die Biografien und Taten von jüdischen Menschen, die als Kämpfer*innen in der Roten Armee, als Partisan*innen, oder in Ghettos und Konzentrationslagern den Nazis Widerstand leisteten. Bei diesem Gedächtnistheater, wie Max Czollek es nennt, sind jüdische Menschen nur die Statist*innen, die als Symbolfigur herhalten sollen, um Deutschland zu versichern, dass alles zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen getan und schlussendlich alles wieder „gut“ ist.

Wir wollen uns dieser Rollenzuschreibung nicht fügen. Deutschland hat die wohl weltweit am schnellsten wachsende jüdische Gemeinschaft; doch von Normalität sind wir noch weit entfernt. Jüdisches Leben kennen viele nur aus dem Geschichtsbuch; Juden als kaftantragende Gestalten mit Bart und Schläfenlocken. Dies spiegelt jedoch in keiner Weise den existierenden Facettenreichtum jüdischen Lebens in Deutschland wieder. Wir sind da, es gibt uns noch, wir sind nicht nur eine entfernte Erinnerung in schwarz-weiß. Ganz im Gegenteil: wir sind bunt, selbstbewusst und lassen uns nicht in Schubladen stecken!

Jüdisch zu sein, was auch immer das bedeuten mag, ist nur ein Teil unserer Identität: Wir sind vor allem junge Menschen, Studierende, mit den unterschiedlichsten Leidenschaften und Interessen. Und wir wollen als aktiver Bestandteil dieser Gesellschaft wahrgenommen werden und unsere Zukunft mitgestalten.

Nach 1945 haben sich die Deutschen selbst und der jüdischen Gemeinschaft ein Versprechen gegeben: „ Nie wieder“! Doch nach wie vor trauen sich viele jüdische Menschen nicht, sich offen zu ihren jüdischen Wurzeln zu bekennen – aus Angst vor antisemitischen Übergriffen und Benachteiligung im Alltag. Die meisten jüdischen Personen haben bereits, teils traumatische, Erfahrungen mit Antisemitismus machen müssen; sei es am Arbeitsplatz, in der Uni, beim Sport oder auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Obwohl die meisten von uns einen deutschen Pass haben und sogar hier in Deutschland geboren sind, sind wir oft „Fremde im eigenen Land“; nie „deutsch“ genug um wirklich dazuzugehören.

In vielen Regionen kann jüdisches Leben gezwungenermaßen nur in der Sicherheit der Gemeinden stattfinden; abgeschottet und mit Überwachungskameras und Polizeischutz ausgestattet. Das ist nicht wie wir uns die jüdische Zukunft in Deutschland vorstellen. Verabschiedet euch von dem Gedanken, dass Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und andere Formen von Menschenfeindlichkeit einer längst vergangenen Zeit angehören würden. Für uns Betroffene ist es nach wie vor ein dringendes Thema, auch wenn Politik und Gesellschaft das oft nicht zu interessieren scheint.

Ist das die deutsche Auffassung von „Nie wieder“? DiesesVersprechen wird angesichts von Diskriminierung und zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und weltweit zu einer leeren, bedeutungslosen Worthülse. Die Reichspogromnacht wurde zwar auf Initiative einer kleinen Clique organisiert und durchgeführt, jedoch nahm der Großteil der Bevölkerung diese schrecklichen Ereignisse wortlos hin. Man machte mit, man feuerte an, man schaute zu.

Es ist nicht nur die Aufgabe der Betroffenen, Diskriminierung jeglicher Art die Stirn zu bieten. Daher appellieren ich an eure Zivilcourage nicht nur an Gedenktagen wie heute, sondern auch im Alltag: Seid nicht so wie die Menschen damals, die gleichgültig wegschauten als die Synagogen brannten, sondern habt den Mut, aktiv und entschlossen jeglicher Form von rassistischer, fremdenfeindlicher, religiöser, politischer oder sexueller Diskriminierung entgegenzutreten.


Kurs Religion eA Q2, Abitur 2022, Rauhaus

Das Mahnmal steht hier.

Es steht hier seit bald 50 Jahren, bei Wind und Wetter, das ganze Jahr hindurch.

Es steht auf dem Platz, der seit etlichen Jahren endlich auch ‚Platz der Synagoge‘ heißt.

Es steht hier, damit wir uns erinnern lassen an die prächtige Synagoge, an die Menschen, die dort ein- und ausgegangen sind, die sich im Jüdisch-Sein verbunden fühlten

Es steht hier, weil wir der Menschen gedenken, die ihr Leben lassen mussten.

Das Mahnmal steht hier aber auch für uns. Nicht nur einmal im Jahr, wenn wir uns hier alle versammeln. Es steht auch hier, wenn jemand im Laufe des Jahres hier vorbeikommt. Wenn jemand nach unten geht und nach oben schaut, wie es auf dem Hinweisschild heißt oder wenn jemand liest, was auf den Gedenktafeln steht. Immer dann, wenn jemand hinhört, was das Mahnmal uns sagen und was es uns fragen kann.

An der Seite der Nazis standen damals Jubelnde und Schweigende, Furchtlose und Ängstliche, Mitläufer*innen und Wegsehende.

Es mahnt uns, aufmerksam zu fragen, wo wir heute stehen. In welchen Situationen sind auch wir Mitläufer*innen, wann sehen wir weg, wo sind wir bequem und ängstlich?

Erinnern – Gedenken – Mahnen - Wo stehen wir
heute? Wir laden Sie ein zu einer Gedankencollage:

• Du gedrehter Flammenstern. Wer dich hier wohl alles besucht, während die Krähe schreit?

„Kinder, Frauen, Männer/Ermordet in dunkler Zeit“, lese ich auf einer der Tafeln. Vor mir, neben mir, hinter mir, überall stehen Namen; eine nicht enden wollende Liste: Edith, Rosa, Kurt, Levi, Ludwig, … Die Krähe schreit wieder. Ich sehe, wie sie beschwingt von einem Betonklotz zum nächsten hüpft. Ganz leichtmütig, ohne Scheu. Mit dem Geschenk des Lebens waren sie gesegnet und es wurde brutal zerstört. Wieder höre ich die Krähe schreien. Sie schreit und hüpft näher an mich heran, als wolle sie mich erinnern. Immer eindringlicher werden ihre Schreie, es klingt, als würde sie Namen schreien.

Namen, kombiniert mit Daten. Anfang und Ende, als wäre alles, was dazwischen passiert ist, nicht wichtig. Namen, niedergeschrieben in einer Liste, niemand sticht hervor. Die Menschen, für die die Namen hier stehen, werden damit zu einer Gemeinschaft. Namen sind eben mehr als nur Buchstaben.

Namen geben uns ein Stück Persönlichkeit. Man identifiziert sich damit. Wer wären wir ohne Namen?

Keiner kann/ keiner darf uns den Namen nehmen! Unser Name bleibt uns bis in den Tod und über den Tod hinaus. Jedenfalls dann, wenn man sich an ihn und an den Menschen erinnert! Wie an diesem Erinnerungsort.

Jeder Name steht für eine Lebensgeschichte mit Wünschen und Hoffnungen. Oft sind diese Lebensgeschichten, und erst recht die vielen privaten, kleinen Erlebnisse der Opfer mit ihren Wünschen und3 Hoffnungen unwiederbringlich verloren.

Die Namen stehen für ein grausames Schicksal, für ein Verbrechen an diesen Menschen. Das Rufen wird nicht verstummen!

Unsere Aufgabe ist es, das Rufen zu hören, um uns zu erinnern!

• Du winziger Raum in der Erde. Wer dich hier wohl alles besucht, wenn es abends dunkel wird und das Laub raschelnd in dein Inneres weht?

Krächzend hüpft die Krähe beiseite, unterbricht das genüssliche Picken in der Styroporschachtel, als die Frau von der Stadtreinigung die Stufen hinuntersteigt.

Wer hat hier sein abendliches Fast-Food-Menü verzehrt? Hat er oder sie hier vielleicht Schutz vor dem Wind gesucht? Allein oder in Gemeinschaft? Den Hungrigen ist der Bissen offensichtlich nicht im Hals stecken geblieben.

Kann man ein Denkmal missbrauchen? Oder ist alles, was man an diesem Ort veranstaltet, vielleicht eine neue Form der Erinnerung?

Selbst wenn man nicht gelesen hat, was hier steht – dieser Ort hat ja doch eine Ausstrahlung. Gefühlen, die hier ausgelöst werden, kann man sich kaum entziehen.

Wenn man hinuntergeht, kann man die Passanten und den Verkehr nicht mehr sehen, die Geräusche sind gedämpft. Eine Atmosphäre von einem ganz eigenen Raum: einsam, düster, eiskalt, obwohl nur einige Meter von der lebendigen Innenstadt entfernt.

Wo ist an diesem Ort die Grenze zwischen Missachtung und Achtung?

Die Frau von der Stadtreinigung sammelt auf ihrer alltäglichen Runde den Müll ein und pustet das Laub weg. Eine Form der Fürsorge. Ob sie dabei bisweilen auch innehält? Kann man mitten im Alltag gedenken? Spürt sie, wo sie steht?

Die Krähe jedenfalls kehrt zurück, sobald der Ort wieder menschenleer ist.

Auch unsere Aufgabe ist es, immer wieder hier hinabzusteigen - und zu gedenken!

• Du mahnender Fingerzeig! Wer dich wohl alles besucht, wenn der Morgentau auf deinen Stahlstäben glänzt?

Winzig scheint das Mahnmal zu sein im Vergleich zu der prächtigen Synagoge, die hier stand. Und doch ist die Botschaft groß! Ich schaue nach oben in die gedrehten Davidsterne und sehe den Himmel leuchten.

Viele Menschen kamen hier zusammen, mindestens einmal wöchentlich. Die Göttinger Gemeinde musste sich später auflösen, weil sie zu klein geworden war, damals, kurz bevor dieses Mahnmal errichtet wurde.

Dass Göttingen heute wieder eine Heimat für gleich zwei jüdische Gemeinden geworden ist, stimmt hoffnungsfroh. Jüdinnen und Juden sollen glücklich und sicher in Göttingen leben! Ein Lichtblick wie der Morgentau auf den Stäben, den man sieht, wenn man aufschaut.

Unsere Aufgabe ist es, immer wieder aufzublicken und unseren Standort zu bestimmen!

Erinnern – Gedenken – Mahnen. Wo stehen wir heute?

In der Schule wird darüber geredet. Manche fragen sich vielleicht, was das jetzt noch bringt. Deshalb darf die Shoah nicht bloß ein Thema in ein paar Geschichtsstunden sein. Wir müssen uns lebendig und gesamtgesellschaftlich erinnern.

Denn Geschichte ist mehr als ein paar Zahlen in einem Buch und ist auch mehr als ein paar Worte an einem Denkmal! Es handelt sich dabei immer auch um eine Botschaft der Vergangenheit an die Zukunft.

„Darüber haben wir nie gesprochen!“ In etwa so antworteten meine Großeltern, als ich sie mit Fragen löcherte, wie sich die Zeit des Holocaust und die Folgen auf ihre Kindheit ausgewirkt haben könnte. Denn so eine Zeit, dachte ich, mit höchst emotionalen und auch traumatischen Ereignissen, musste doch Spuren hinterlassen haben.

So traurig es ist, müssen wir feststellen: Individuelles Erinnern ist weitgehend verlorengegangen mit der Ermordung der Menschen. Es bleibt uns bald nur noch das kollektive kulturelle Erinnern.

Das kollektive kulturelle Erinnern ist zeremonialisiert, institutionalisiert; die Sprachen des kulturellen Erinnerns sind das Denkmal und der Ritus; Von der Gesellschaft autorisierte Menschen gestalten das kulturelle Erinnern.

Die Gemeinschaft schafft durch die Erinnerung eine kollektive kulturelle Identität. Sie erinnert sich gemeinsam und kann im gemeinsamen Austausch einsehen, welches Unrecht den Menschen widerfahren ist. Damit erinnert sie zugleich daran, wozu der Mensch fähig ist.

Da reicht es nicht, sich einmal zu ein paar Gedenktagen an ein Mikrofon zu stellen und eine6 Rede zu halten.

Und wir fragen uns auch: Sind Worte überhaupt angemessen für all die schrecklichen Taten? Kann man das Schreckliche überhaupt mit Worten fassen? So großes Leiden, das kein Mensch sich wirklich vorstellen kann!

Das kollektive kulturelle Erinnern stellt immer eine Interpretation der Vergangenheit dar. Die Gesellschaft definiert, wie sie sich erinnern will.

So wurde vor der Einweihung des Mahnmals entschieden, wie die Inschrift lauten solle.

Ursprünglich war ein Vers des Propheten Jeremia angedacht: „O, hätte ich Tränen genug zu weinen über die Erschlagenen meines Volkes“. Man entschied sich aber für Jesaja: „Berge werden weichen und Hügel werden wanken, aber meine Gnade wird von dir nicht weichen“. Statt Klage den Zuspruch der Gnade. Das ist eine Interpretation der Geschichte.

Auch die Inschrift: „Kinder, Frauen, Männer/Ermordet in dunkler Zeit“ ist eine bestimmte Sicht auf die Geschichte. Vielleicht würde man das heute anders formulieren?

Man hatte sich damals für diese Inschrift entschieden, die eigentümlich passivisch klingt.

Wer das getan hat, die Mörder, werden nicht als solche benannt. Es klingt fast so, als wäre von irgendeiner geheimen Macht gemordet worden.

„Ermordet in dunkler Zeit“, die Zeit war ‚dunkel‘, konnte man also etwa nicht genau sehen?

„Zur Erinnerung an die 1938 niedergebrannte Synagoge und den Leidensweg der jüdischen Gemeinde.“ Erinnern? Das ist gut, aber wollen wir heute nicht mehr, als uns nur erinnern? Wollen wir nicht auch gedenken und mahnen?

Denn etwas davon, was damals zu einem barbarischen Menschenbild führte und in der Folge dann auch zur Ermordung von Jüdinnen, Juden und vielen anderen führte, ist auch heute noch da.

Und können nicht mehr sagen, dass es einfach dunkel ist, denn wir haben heute ein anderes Bewusstsein. Wir stehen historisch nicht VOR dem Holocaust, sondern wir haben gesehen, wozu der Mensch fähig ist.

Es hält sich der Irrglaube, dass die Geschichte der Vergangenheit angehöre und dass also mit dem Ende des Holocaust jedes antisemitische und antirassistische Gedankengut aus den Köpfen der Menschen gelöscht sei. Wenn das so einfach wäre! Die Uhr hat nie null geschlagen!

Auch ich bin von der Vergangenheit geprägt. Das merke ich daran, dass ich mich verantwortlich fühle: Verantwortlich dafür, dass und wie erzählt und erinnert wird.

Wir stehen hier, um uns zu erinnern, zu gedenken und auch um zu mahnen, wenn es direkten oder strukturellen Antisemitismus und Rassismus gibt.

Die jüdische Philosophin Susan Nieman bemerkt, dass, auch wenn noch längst nicht alles gut ist, das deutsche Erinnern durchaus zum Vorbild für andere Nationen dienen könne. Sie spricht davon, dass Deutschland „Geschichtsaufarbeitungsweltmeiser“ sei.

Obwohl Nieman das sagt, kennt auch sie die direkte Bedrohung. Zugleich erzählt sie aber auch von strukturell-antisemitischen Erfahrungen: Die Erzieherin ihres Sohnes sei froh gewesen, nicht gewusst zu haben, dass ihr Sohn Jude sei, denn nur so habe sie, die Erzieherin, unbefangen mit ihm umgehen können.

In der Wissenschaft geht man davon aus, dass es für die Erinnerung einen so genannten Abrufreiz braucht, also eine Art Trigger. Eine Gedenkfeier wie diese am 9. November ist eine Art Trigger des kulturellen Gedächtnisses.

Sie schafft Zeit, innezuhalten und aufmerksam zu werden dafür, was heute so allgegenwärtig und bisweilen unbewusst in unseren Alltag vorkommt. Und sie schenkt uns einen Perspektivwechsel. Denn die meisten von uns hier sind Kinder und Kindeskinder der Davongekommenen oder der Jubelnden und Schweigenden, vielleicht auch der Furchtlosen und Ängstlichen, oder Kinder der Mitläufer*innen und der Wegsehenden.

Aber genügt dieser Rahmen?

Denn, was passiert eigentlich nach diesem Ritus heute? Gehen wir alle wieder nach Hause in der Annahme, bis zum nächsten Jahr genug getan zu haben gegen Rassismus und Antisemitismus?

Erinnern muss zu einem Event werden, an dem ALLE teilnehmen WOLLEN. Ein Event, wo sich das Gedenken nicht auf eine Stunde und das Mahnmal beschränkt.

Erinnern allein genügt nicht, erst recht nicht, wenn es nur in einem Kreis auserwählter Bildungsbürger geschieht. Rechtsextreme Einstellungen gibt es in9 allen Bereichen der Gesellschaft. Und täglich geschehen zahlreiche antisemitische und rassistische Übergriffe.

Dieses Event muss das Handeln gegen den gegenwärtigen Antisemitismus miteinschließen. Es müsste ein Grundstein für verändertes Handeln gelegt werden. Dann würde das Erinnern, Gedenken, Mahnen den Titel „Geschichtsaufarbeitungsweltmeister“ bald verdient haben.

Was auch immer geschieht: Das Mahnmal wird hier weiter stehen.

Die entscheidende Frage aber ist, wo wir stehen und wofür wir stehen.

Und eines ist auch sicher: Wenn wir alle weg sind, wird die Krähe wiederkommen und dort auf der kleinen Rasenfläche sitzen, als ob sie den Platz bewachen würde.